Samstag, 22. Februar 2014

Meinungsstreit und Handlungseinheit - geht beides?

Beate Landefeld
Eure Einladung verdanke ich dem Nachdruck meines Artikels zum Thema „Meinungspluralismus und Kommunistische Partei“ aus den Marxistischen Blättern 1989. Die darin behandelten Probleme existieren in modifizierter Form auch heute.
1989 gab es in der DKP eine „Erneuererströmung“, die sich an die Perestroika in der Sowjetunion anlehnte. Ihre Führer und Anhänger blieben in der Minderheit und verließen später die Partei. Das passierte in zeitlicher Nähe zum Zusammenbruch der DDR.
Im weiteren Verlauf der historischen Niederlage des Sozialismus in Europa verloren wir 90% unserer früheren Mitglieder. Resignation war die Grundstimmung, die diesen Aderlass bewirkte. Diese Resignation war strömungsübergreifend. Ihre allmähliche Ausbreitung begann nach der Krise 1974/75, parallel zu den Schüben der Rechtsentwicklung, die dieser Krise folgten. Die Basis war zunächst innenpolitischer Frust. Die Ereignisse von 1989-92 wurden dann allerdings zum Höhepunkt.
Die Kritik der damaligen „Erneuerer“ bezog sich unter anderem auf unser Marxismusverständnis. Bemängelt wurde eine angeblich „monolithische Geschlossenheit“ der DKP. Die Bedeutung dieses Vorwurfs war mehrschichtig. Es ging zum einen um unsere zu gering entwickelte Diskussions- und Streitkultur. Zugleich war unterschwellig auch der Begriff einer „Geschlossenheit“ des Marxismus im Visier, interpretiert im Sinne von Abgeschlossenheit, Mangel an Offenheit und an Entwicklungsfähigkeit. Dies zielte letztlich gegen einheitliche weltanschauliche Grundlagen der Partei.
Die DKP hat in den 90er Jahren bei der Neufassung ihres Statuts und ihrer Programmatik versucht, die Kritik an der zu wenig entwickelten Streitkultur zu beherzigen. Der Forderung nach weltanschaulichem Pluralismus ist sie dagegen nicht nachgekommen. Das widerspräche dem Anspruch, eine wissenschaftliche Weltanschauung zu erarbeiten und zu vertreten. Diese kann, sofern sie sich auf die Welt als Ganzes bezieht, nur eine Anschauung aus der Sicht der Lohnabhängigen sein. Deren Stellung in der Struktur der Gesellschaft steht einer radikalen Aufklärung nicht im Wege. Dagegen bringt die Interessenlage ausbeutender Klassen Erkenntnisschranken mit sich.

Weltanschaulicher Pluralismus?

Antonio Gramsci hat sich viel mit Erziehung beschäftigt. Er umschreibt den Zusammenhang von Welterkenntnis und Arbeit auf kurze und anschauliche Weise anhand der Funktionen der Grundschule. Sie soll ja die Kinder auf ihre künftige Einbeziehung in den gesellschaftlichen Arbeitsprozess vorbereiten. Gramsci führt aus:
Der Begriff und die Tatsache der Arbeit (der praktisch-theoretischen Tätigkeit) ist das der Grundschule immanente Erziehungsprinzip […] Der Begriff des Gleichgewichts zwischen Gesellschaftsordnung und Naturordnung auf der Grundlage der Arbeit, der praktisch-theoretischen Tätigkeit des Menschen, schafft die ersten Elemente eines von aller Magie und Zauberei befreiten intuitiven Weltverständnisses und gibt den Anlass für die Weiterentwicklung einer historischen, dialektischen Weltauffassung, um die Bewegung und das Werden zu begreifen, die Summe der Anstrengungen und Opfer abzuschätzen, welche die Gegenwart der Vergangenheit abgefordert hat und welche die Zukunft der Gegenwart abfordert, um das Gegenwärtige als Synthese des Vergangenen, aller vergangenen Generationen zu begreifen, das sich in die Zukunft hinein entwirft.“1
Die Weiterentwicklung der intuitiven „ersten Elemente“ einer Weltsicht zur wissenschaftlichen Weltanschauung leistet die Grundschule im Kapitalismus natürlich nicht. Die ideologischen Apparate des Bürgertums verabreichen Aufklärung nur in dem Maß, wie es für einen funktionierenden Arbeitsprozess unabdingbar ist. Der „Privatmensch“ jenseits der Arbeit wird in Konsumismus und unterschiedlichste Religionen und Ersatzreligionen verstrickt. Aufklärung für verändernde Praxis muss und kann nur von eigenständigen Organisationen der Lohnabhängigen selbst organisert werden. Nicht zuletzt ist es Aufgabe der marxistischen Partei der Arbeiterklasse.2
Das Gramsci-Zitat zur Grundschule bildet aber ab, um was für eine Weltanschauung und Theorie es geht: Sie muss, wie Engels sagt, eine „Theorie des Gesamtzusammenhangs“ sein, dessen Struktur und historische Dimension erfassen. Sie kommt ohne Götter oder Demiurgen aus, ist also materialistisch. Zugleich ist sie dialektisch, weil sie die den Dingen und Verhältnissen selbst innewohnenden Widersprüche als die Triebkräfte der Entwicklung begreift. Sie ist auf Veränderung des Bestehenden gerichtet, also praktisch-kritisch und sie ergreift Partei für die Arbeiterklasse als Hauptsubjekt der Veränderung.
Eine Theorie des Gesamtzusammenhangs ist auch in sich selbst zusammenhängend. Sie kann nicht aus pragmatisch oder eklektisch Zusammengeflicktem bestehen. Weder aus einem Mix marxistischer und bürgerlicher Versatzstücke, noch aus dem Sammelsurium separater, einzelne Aspekte jeweils verabsolutierender „Marxismus-Varianten“. Der Marxismus ist ein System von wissenschaftlichen Anschauungen und Theorien, welches in sich schlüssig ist. Das schließt Offenheit für neue Entwicklungen, für Veränderungen, für Anstöße von außen nicht aus, sondern ein.
Offenheit heißt Überprüfbarkeit durch praktische Erfahrung und kollektive wissenschaftliche Diskussion. Der Marxismus ist vor allem offen für Erkenntnisfortschritte jedweder Herkunft. Er verarbeitet sie und macht sie für seine Weiterentwicklung fruchtbar. Auch in seiner Entwicklung bleibt der Marxismus ein einheitliches Theoriengebäude. Systematik, Offenheit und Dynamik stehen nicht gegeneinander, sondern bedingen einander.

Bewußtheit des Handelns erfordert Streitkultur und Beschlussdisziplin

Eine ganz andere Kritik war die an unserer unterentwickelten Streitkultur. 1989 hatte ich dazu geschrieben: „Hätten wir schon früher offener diskutiert, Meinungsverschiedenheiten frühzeitiger ausgetragen, vorhandene Widersprüche ausdiskutiert und nicht zugedeckt, dann hätte sich wohl manche Meinungsverschiedenheit nicht zu einer regelrechten Kluft zwischen ihren Trägern weiterentwickelt...“3
Eine sich ständig entwickelnde gesellschaftliche Realität braucht die allseitige Überprüfung neuer Probleme und Erscheinungen. Möglichst weitgehende Homogenität der Einschätzungen muss am Ende streitbarer Diskussion stehen, nicht an ihrem Anfang. Vorn vornherein bestehende Homogenität verführt zu eindimensionalen Einschätzungen, zu Vereinfachungen. Deshalb hat zum Beispiel Lenin immer darauf geachtet, dass ein möglichst breites Spektrum von Meinungen und Herangehensweisen schon in den Leitungen der Partei der Bolschewiki vertreten war.
Seit 1993 haben wir ein neues Statut. Es fördert das Bemühen um die innerparteiliche Diskussionskultur. Es setzt hohe Anforderungen an das Zustandekommen von wichtigen Beschlüssen. Diskussion und die „Erarbeitung möglichst breiter Übereinstimmung“ sollen die wichtigsten Mittel sein, um das gemeinsame Handeln der Mitglieder zu erreichen. Das zielt gegen ein Übermaß an Zentralismus im Verhältnis zur Demokratie, gegen die Neigung zum Administrieren. Diese gibt es in allen Lagern. Jede noch so kleine Bürokratie bringt diese Tendenz hervor.
Wenn sich in der Diskussion nicht alle überzeugen lassen, werden Mehrheitsentscheidungen fällig. Kommt es unter Zeitdruck zu Vorstandsbeschlüssen ohne vorherige Diskussion, so ist nach unserem Statut eine spätere Begründung „zwingend erforderlich“. In manchen Situationen muss also Beschlussdisziplin die völlige Übereinstimmung ersetzen. Man darf Beschlüsse kritisieren, aber sie sind verbindlich. Wäre das nicht so, würde das Kriterium der Praxis ausgehebelt. Wird ein Beschluss nur halb oder gar nicht umgesetzt, dann fällt auch die Probe auf die Praxis aus.
Das heißt, die Beschlussdisziplin ist eine Bedingung dafür, dass der Meinungsstreit mittels des Kriteriums der Praxis zu Erkenntnisfortschritten führen kann. Genau darin, in der Hebung der Bewußtheit unseres Handelns, liegt für uns der Sinn des innerparteilichen Austauschs der verschiedenen Meinungen. Es geht uns nicht um Pluralismus um seiner selbst willen. Meinungsstreit dient bei uns der allseitigen Vertiefung der gemeinsamen Reflexion, um möglichst richtige Schlußfolgerungen für die Praxis zu ziehen. Diese müssen durchaus nicht endgültig sein.

Gründe für mehr Meinungsdifferenzen in KPs

Schon 1989 gab es eine Reihe von objektiven Ursachen für die Abnahme an Homogenität und Einheitlichkeit in kommunistischen Parteien. Wir sprachen nach der Krise 1974/75 von einer „Umbruchperiode“. Darunter faßten wir die Folgen der wissenschaftlich-technischen Revolution wie auch die Versuche der Monopole, mit Sozialabbau und Vorrang der Weltmarktorientierung („Globalisierung“) einen reaktionären Ausweg aus der Krise zu finden.
  • Diese Umbruchperiode verlangte uns Neuorientierungen auf vielen Gebieten ab, zum Beispiel in der Bewertung der friedlichen Nutzung der Kernenergie.
  • Es gab starke Veränderungen in der sozialen Struktur der Arbeiterklasse. Sie brachten auch in der DKP-Mitgliedschaft eine größere Differenzierung, wenn nicht gar eine relative Heterogenität mit sich. Damit waren neue und unterschiedliche Bedürfnisse, neue und unterschiedliche Prioritäten in der Diskussion und politischen Praxis verbunden. Auch dies ein objektiver Grund, weshalb die Diskussionen seither komplizierter, vielfältiger und mit mehr Meinungsverschiedenheiten verliefen.
  • Damals kam als ideologische Herausforderung der Gorbatschowismus hinzu, der bei den einen überschäumende Begeisterung, Hoffnungen und Illusionen, bei den anderen Skepsis, Befürchtungen und Unverständnis hervorrief. Darüber ist die Geschichte hinweggegangen. An die Stelle des Streits über die Ideen Gorbatschows ist der Streit über die Ursachen der Niederlage des Sozialismus getreten.
Mit Modifizierungen bestehen fast alle 1989 angeführten objektiven Gründe für die Ausdifferenzierung von Meinungen in der DKP bis heute fort und es sind neue hinzugekommen:
  • Von den tiefen Niederlagen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat sich die kommunistische Bewegung bis heute nicht erholt. Die Fortschrittskräfte insgesamt sind überwiegend in der Defensive. In den großen kapitalistischen Hauptländern befinden sich linke Kräfte in einer relativen Isolierung, nachdem ehemals reformistische Parteien der Sozialdemokratie und der neuen sozialen Bewegungen (bei uns die Grünen) zum Neoliberalismus übergegangen sind. Dabei existiert zwischen der Rechtsentwicklung reformistischer Parteien und der Schwäche kommunistischer Parteien durchaus ein Zusammenhang. Diese Kräftekonstellation erfordert intensives Nachdenken über die Dialektik von autonomer Stärkung und Bündnispolitik, von Reform und Revolution. Es gibt dafür kein allgemeines Schema.
  • Die kommunistische Bewegung ist heute vielfältiger. Sie schließt ehemals maoistische Parteien wieder ein. Die stärksten kommunistischen Parteien kommen heute aus den Schwellenländern, nicht aus den Zentren des Imperialismus. In Europa reicht die Bandbreite von FKP bis KKE. Die Parteien zogen aus den Niederlagen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Schlußfolgerungen. Dass die Widersprüche in der kommunistischen Bewegung sich in den einzelnen Parteien reflektieren, darf nicht verwundern. Umso erfreulicher, dass die KPL, die DKP und die PDA Belgiens vor Kurzem eine Stellungnahme von 31 europäischen KPs zu den Ursachen des ersten Weltkriegs auf den Weg gebracht haben und dass am Ende der Erklärung ein Bekenntnis zur Oktoberrevolution steht.
  • Große Lücken haben wir heute in den wissenschaftlichen Grundlagen unserer theoretischen Diskussion und Analyse. Der Wegfall früher vorhandener Forschungsinstitute, wie des IMSF oder der Forschungsinstitute der DDR ist nicht leicht durch die „Marke Eigenbau“ zu ersetzen. Wir sind mehr als früher auf nichtkommunistische Quellen angewiesen. Auch hier liegen Einfallstore für Irrtümer.
  • Die innere Differenzierung der DKP wurde durch ihre „Ostausweitung“ bereichert, durch GenossInnen und Genossen mit einer anderen Lebensgeschichte und politischen Sozialisation als die nach 1968 gewonnenen Mitglieder im Westen.

Meinungsströmungen

1989/90 stand für viele KPs die Existenzfrage. Die in der DKP diskutierten Optionen reichten von der Organisierung als kommunistische Strömung im Rahmen einer linkspluralistischen Partei, über die Schaffung einer „modernen KP“ mit Fraktionen, bis zum Plädoyer für eine Neuformierung der DKP auf marxistisch-leninistischer Grundlage. Konsens war bei den übrig gebliebenen Mitgliedern, dass eine eigenständige KP nötig sei, und so setzte sich die letzte Option mehr oder weniger konsequent durch. Das bleibt ein Verdienst aller daran Beteiligten, unabhängig von ihrer damaligen oder späteren „Strömungszugehörigkeit“.
Strömungen entstanden bei uns spätestens wieder in den 90er Jahren während der Diskussionen über das neue Parteiprogramm. Entgegengesetzte Pole der Diskussion bildeten Leo Mayer und Hans Heinz Holz. Beide wirkten an der Formulierung des Entwurfs mit. In seiner endgültigen Fassung durch den Parteitag 2006 sollte das Programm Ausdruck des kollektiven Bewusstseins und des kollektiven Willens der Partei sein, hatte Hans Heinz Holz formuliert. Eine linke Minderheitenopposition stimmte am Ende aber gegen das Programm. Das war ihr Recht, drückte aber kein sehr großes Vertrauen in das kollektive Bewußtsein und den kollektiven Willen der Gesamtpartei aus.
Die linke Minderheitenopposition trat auch nach 2006 mit eigenen Publikationsorganen und gelegentlichen Stellungnahmen in Erscheinung. Die Parteiführung reagierte darauf meist mit dem stereotypen Verweis: „Das widerspricht dem Parteiprogramm.“ Dagegen hatte Hans Heinz Holz noch betont: „Unterschiedliche Perspektiven ergänzen oder widersprechen einander. Erst im Austausch der Argumente kann sich herausstellen, was sich ergänzt und was sich widerspricht.“4 Zum Austausch der Argumente kam es nach Verabschiedung des Programms nur noch selten.
Erst als 2010 „Politische Thesen“ des damaligen Sekretariats vorgelegt wurden, kam Bewegung in die festgefahrenen Fronten. Es kam zu einer kurzen und heftigen Thesendiskussion. Der 19. Parteitag sah die „Thesen“ in einem „Spannungsverhältnis“ zum gültigen Parteiprogramm. Es bildete sich eine neue Mehrheit, die die Thesen als Rückschritt hinter unser Programm sah und das Programm verteidigte. Auf dem 20. Parteitag folgte ein Führungswechsel. Als Reaktion darauf bildete sich eine rechte Minderheitenopposition.5 Ihr Kern besteht aus der Mehrheit des früheren Sekretariats des Parteivorstands der DKP.
Inhaltlich ist in der DKP vieles umstritten: Die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus/Imperialismus, die Rolle der Nationalstaaten, das Verhältnis von Nationalem und Internationalem, die marxistische Parteikonzeption und der Weg zum Sozialismus. Geht es um die Analyse neuer Entwicklungen in der Gesellschaft, so werden manchmal Einschätzungen als alternativ diskutiert, die sich ergänzen könnten, wenn die Dialektik beherrscht würde, und nicht einzelne Seiten der Entwicklung verabsolutiert würden.
In der Frage der Parteikonzeption und in den Aussagen zum Sozialismus stellten die „Thesen“ des damaligen Sekretariats jedoch Prinzipien infrage. Das betrifft die unverzichtbare Rolle der selbstständigen KP bei der Vermittlung sozialistischen Bewußtseins. Und es betrifft das Ziel der Erringung der politischen Macht der Arbeiterklasse als Voraussetzung für den Sozialismus. In beiden Fragen verwässern die „Thesen“ die präzisen Aussagen unseres Programms. Damit war der Rubikon überschritten. Es bildete sich eine neue Mehrheit.

Wie lassen sich Fraktionierungen bekämpfen?

Unser gültiges Statut enthält ein Fraktionsverbot. Es räumt aber das Recht ein, Kritik und Vorschläge nicht nur einzeln oder als Untergliederung, sondern auch „in Verbindung mit anderen Mitgliedern der Partei“ zu entwickeln und zu propagieren. Das wurde von der linken Minderheitenopposition und wird seit dem 20. Parteitag von der rechten Minderheitenopposition als Zulassung von Meinungsströmungen interpretiert und in Anspruch genommen. Lenin definierte Fraktionen als „Entstehung von Gruppen mit besonderen Plattformen und dem Bestreben, sich bis zu einem gewissen Grade abzuschließen und eine eigene Gruppendisziplin zu schaffen“.6
Die Übergänge zwischen Strömungen und Fraktionen sind nach dieser Definition fließend. Wenn Meinungsströmungen bereits existieren, muss demnach ihre Verfestigung zu Fraktionen verhindert werden. Der Weg kann nur sein, für die Überwindung falscher und die Verallgemeinerung richtiger Auffassungen auf marxistischer Grundlage einzutreten. Das erfordert theoretische Arbeit und Diskussion. Es erfordert vor allem die gemeinsame politische Praxis, die Umsetzung gültiger Beschlüsse und kollektive Auswertung der Ergebnisse. Ein solcher Weg ist nicht gleichbedeutend mit dem Sieg einer Strömung über eine andere.
Die Vorstellung, es könnte eine Strömung geben, die in allem recht hat, während die gegnerische in allem irrt, ist rational nicht begründbar. Es gibt in einer kommunistischen Partei in keiner konkreten Frage nur zwei Sichtweisen. Meinungsvielfalt existiert auch innerhalb von Strömungen. Wie Natur und Gesellschaft, so entwickelt sich auch das Denken nicht allein in Form von quantitativem Wachstum, sondern ebenso in qualitativen Sprüngen. Dabei kann sich mal die eine, mal eine andere Sicht auf die widersprüchlichen Seiten der objektiven Realität durchsetzen.
Für ein aktives Herangehen an Meinungsbildung unverzichtbar ist, Ansichten nicht als feststehend, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit und Entwicklung zu erfassen, das Richtige an ihnen zu unterstützen und das Falsche zu widerlegen. Konformitätsdruck, der von verfestigten Strömungen ausgeht, behindert die allseitige Erörterung von Problemen und begünstigt oberflächliche Schnellurteile, die nicht auf Erkenntnis, sondern auf innerparteilichen Terraingewinn zielen. Ein solcher „taktischer“ Diskussionsstil untergräbt langfristig das Vertrauen in die Solidität aller Aussagen.
Achten Mitglieder mehr darauf, von wem eine Aussage kommt, als sich mit ihrem Inhalt zu beschäftigen, vernebelt Misstrauen die Aufmerksamkeit für Argumente. Wenn sich die Nebel nicht verziehen, ist, wie in einer kaputten Ehe, auf lange Sicht der Zusammenhalt bedroht. Ein Misstrauensklima muss bewusst abgebaut werden. Meinungsführer sind hierbei besonders gefordert. Scharfe Kritik in der Sache ist erlaubt. Herabsetzungen, Verdächtigungen, Provokationen muss sich jede(r) verkneifen und die der Gegenseite ins Leere laufen lassen. Sonst führt die spontane Dynamik zur Spaltung.
Spaltung würde aber keinen einzigen der objektiven Widersprüche aufheben, die den Strömungen zugrunde liegen. Unter dem Vorzeichen einer geschwächten Partei würden sie schnell wieder auftauchen. Unter welchen Umständen ist Spaltung überhaupt gerechtfertigt? Laut Lenin nur dann, „wenn die Meinungsverschiedenheiten wirklich äußerst tiefgehend sind und wenn sich eine Korrektur der falschen Richtung der Politik der Partei oder der Arbeiterklasse anders nicht erreichen lässt.“7 In einer solchen Situation befindet sich die DKP gegenwärtig eindeutig nicht.
Wird eine Meinungsströmung zur Fraktion, verletzt das unser Statut. Geheim einberufene Treffen und die Gründung eines Vereins, der auf eigener Plattform mit der DKP konkurriert, können als Fraktionsbildung interpretiert werden. Unser Parteivorstand hat es so gesehen. Im Zweifel ließe sich auch die zentrale Schiedskommission anrufen, um es zu klären. Bisher ist dies nicht geschehen. Wahrscheinlich ist das auch gut so, denn es würde uns von der Umsetzung unserer Poltitk stärker und länger ablenken, als wenn wir die Spannungen aushalten.
Ein konstruktiveres Klima entsteht vor allem im politischen Voranschreiten unter den sich ohnehin ständig verändernden Bedingungen. Was heute falsch erscheint, kann morgen als goldrichtig gesehen werden und umgekehrt. So dürfte mittlerweile klar sein, dass es beim Streit um die Einschätzung der EU8 um ein objektives Problem geht, das auch in anderen linken Parteien inzwischen hart umstritten ist. Die praktische Erfahrung muss mit dem geduldigen Bemühen um sachliche, theoretische Diskussion kombiniert werden.
Nach meiner Meinung gibt es zwei wesentliche Gründe, weshalb die Herstellung von möglichst großer Einheitlichkeit in Theorie und Praxis unserer Partei prinzipiell möglich bleibt:
  1. Bei aller Differenziertheit in der Lage der verschiedenen Teile der Arbeiterklasse gibt es nach wie vor gemeinsame und gleichgerichtete objektive Grundinteressen der gesamten Klasse sowie der ihr benachbarten Schichten.
  2. Die vorhandenen gemeinsamen Interessen sind erkennbar. Ebenso sind die in einer gegebenen Situation zu setzenden Prioritäten des Klassenkampfs erkennbar, vor allem dann, wenn wir Massen- und Bündnisbeziehungen entwickeln und nicht nur im eigenen Saft schmoren.
Das sind objektive Gründe für die Möglichkeit von mehr Einheit. Sie in der Wirklichkeit zu erreichen, sollte nicht aufgegeben werden. Ein solidarischer Kampfbund Gleichgesinnter zu sein, war und ist eine moralische Stärke jeder kommunistischen Partei, die dies von sich behaupten kann.
(Referat "Meinungspluralismus und kommunistische Partei 2014"  gehalten beim Rotfuchs-Verein in Dresden am 22.2.2014)
1Gefängnishefte, Band 7, Heft 12, §2, S. 1522
2Vgl. dazu: Beate Landefeld, Zur kommunistischen Parteikonzeption. (http://beatelandefeld.blogspot.de/)
3MB 7-8/1989, S. 54
4 Hans Heinz Holz, Editorial zu Theorie & Praxis 4/2006
5Sie sammelte sich um das ehemalige Nachrichtenportal der DKP „kommunisten.eu“
6W.I. Lenin, X. Parteitag der KPR(B), in: LW Bd. 32, S. 245
7W.I.Lenin, Noch einmal über die Gewerkschaften. LW 32, S. 69
8EU-Kritik, die heute eher realistisch wirkt, wurde auf einem Parteitag 2009 als „parteischädigend“ tituliert.

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