Freitag, 10. Juli 2020
Sprang Merkel über ihren Schatten? Das Großkapital will eine robustere EU
Um die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ranken die bürgerlichen
Medien eine Erzählung, die ungefähr so lautet: In der Corona-Krise stieg Angela
Merkels Beliebtheit auf ein Hoch. Da Merkel 2021 nicht zur Wiederwahl stehe, könne
sie mit dem Merkel-Macron-Plan „über ihren Schatten springen“. Der Plan sieht Zuschüsse
von 500 Milliarden für den Wiederaufbau der am meisten von Corona betroffenen
Länder vor. Die Merkel-Vertraute Ursula von der Leyen, so geht die Erzählung
weiter, legte seitens der EU-Kommission noch 250 Milliarden drauf. Die 750
Milliarden plus die 1100 Milliarden des EU-Haushalts 2021-2027 werden als Paket
im Rat verhandelt. Erstmals soll die EU für einen Teil der Summe gemeinsame
Schulden aufnehmen. Das war für die deutsche Bourgeoisie bisher tabu. „Eurobonds“
galten ihr als Frevel, da Länder, die „über ihre Verhältnisse lebten“, mit hohen
Zinsen zu bestrafen seien.
Die offizielle Begründung der Kehrtwende: Anders als in der Eurokrise
2011, als Berlin Austeritätsprogramme erzwang, sei die Coronakrise ohne eigenes
Verschulden über die Südländer gekommen. Daher sei eine „vorübergehende“
gemeinsame Verschuldung aus „Solidarität“ vertretbar. Österreich, die Niederlande,
Dänemark und Schweden, die beim bisherigen „Stabilitätskurs“ bleiben möchten, erhielten
den Titel „die geizigen Vier“. Die EU-Kommission bewilligte bis Mitte Mai Staatshilfen
in Höhe von 1,95 Billionen, von denen rund 51 Prozent allein auf die
Bundesrepublik entfielen. Das sei, so EU-Kommissarin Margarete Vestager,
„Wettbewerbsverzerrung“. Die Stärke des deutschen Staates trieb also die ökonomische
Ungleichmäßigkeit noch an. Vor allem Italien muss Unternehmens- und
Bankenpleiten verhindern, um nicht eine zweite Eurokrise und den weiteren Zerfall
der EU heraufzubeschwören.
Die deutschen Konzerne produzieren für den Weltmarkt,
brauchen aber auch den EU-Binnenmarkt, der vor der Krise 60 Prozent ihrer Exporte
aufnahm und in der Coronakrise wegbrach. Im Mai verlangten die
Industriellenverbände Deutschlands (BDI), Frankreichs (Medef) und Italiens
(Confindustria) eine Reaktion der EU „von beispielloser Tragweite“. Nötig sei „eine
starke finanzpolitische Reaktion mit einem hohen Maß an Solidarität für die
besonders betroffenen Länder“. Die Kommission müsse „die Finanzmittel im
vorübergehenden Gemeinschaftsrahmen deutlich aufstocken“, um Unternehmen bei
ihrer Gesundung zu unterstützen. Ein „europäischer Wiederaufbaufonds in
angemessener Höhe“ solle dies flankieren und gleiche Wettbewerbsbedingungen
innerhalb der Union sicherstellen (Homepage des BDI).
Das Großkapital selbst drängt auf eine gewisse Korrektur der
durch seine Konkurrenz verursachten Ungleichmäßigkeit. Merkel und von der Leyen
bewegen sich wie gewohnt im Takt des BDI. Dazu muss Merkel über keinerlei
Schatten springen. Das Geld soll in die Stabilität und Zukunftsfähigkeit der EU
investiert werden: in den ökologischen Umbau, die Digitalisierung, in einen von
asiatischen Lieferketten unabhängigen Gesundheitssektor. Industriepolitik, die
Förderung europäischer Champions, das Schmieden weltmarktfähiger
EU-Rüstungskonzerne, strenge Aufsicht über chinesische Firmenkäufe sind angesagt.
Die „Solidarität“ des deutschen Kapitals zielt auf mehr Zusammenhalt und Robustheit
der EU, um in der Konkurrenz mit den USA und mit China mithalten und in der
Weltpolitik weiter mitreden zu können.
Der Beifall, den auf dem Höhepunkt der Pandemie in Italien medizinische
Helfer aus China, Kuba und Russland erhielten, wurde als Weckruf verstanden. Inwieweit
die vollmundigen Ankündigungen aufgehen oder ob am Ende nur neue Löcher
gestopft werden, die die kapitalistische Krise aufreißt, ist offen. Ob die Lohnabhängigen
einen Nutzen haben oder draufzahlen müssen, hängt vom Niveau ihres
Klassenkampfs ab.
UZ-Kolumne von Beate Landefeld vom 10.7.2020
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