Freitag, 9. Oktober 2020

Über Kreuz liegende Interessen - EU-Gipfel mischt sich in Belarus ein und schont die Türkei

Europäische Souveränität, strategische Autonomie, Resilienz – die Schlagworte aus Brüssel geben die Richtung an, in die sich die EU entwickeln soll. Europäische Souveränität soll den Ausfall der USA als Übervater des Westens kompensieren. Strategische Autonomie auf allen Gebieten, vom Militär bis zur Wirtschaft, hält man für nötig, um sich als „europäische Wertegemeinschaft“ zwischen den protektionistischen USA und einem angeblich „aggressiv agierenden China“ zu behaupten. Resilienz soll die EU in einer Welt der Spannungen, Krisen, Krachs und Katastrophen fit machen, vieles auszuhalten, ohne zu bersten. Das Bedrohungsnarrativ trägt dem Wandel seit der Krise 2008 Rechnung. Die Globalisierung verlor an Tempo. Auf die weiter bestehenden Ungleichgewichte der Weltwirtschaft reagierten mächtige Akteure mit Protektionismus. Der US-Handelskrieg gegen China trägt neben den normalen Krisen zusätzliche Unberechenbarkeit in die Weltwirtschaft.

Der EU-Gipfel am 1./2.10.2020 rang um Gemeinsamkeit in der EU-Außenpolitik. Da es sich dabei um die Politik eines in sich widersprüchlichen imperialistischen Staatenverbunds handelt, klappt das in der Regel nur mit Hängen und Würgen. Diesmal blockierte Zypern, in dessen Hoheitsgewässern die Türkei gerade Gasvorkommen erkundet, den EU-Beschluss für Sanktionen gegen Belarus. Zypern meinte, zunächst müsse die Türkei sanktioniert werden. Nach zähen Verhandlungen gab sich das kleine Land damit zufrieden, dass die Türkei bis zur Dezembersitzung des EU-Rats verschont bleiben soll. Bis dahin will man Erdogans Regierung zu konstruktiven Verhandlungen animieren, nicht, ohne ihr gleichzeitig schärfere Sanktionen anzudrohen.

Angela Merkel warf sich für die Türkei in die Bresche. Als NATO-Partnerin und Pfeiler der EU-Flüchtlingspolitik werde sie noch gebraucht. Dagegen forderte Sebastian Kurz die Beendigung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Emmanuel Macron fuhr schon Mitte August französische Kriegsschiffe im Mittelmeer auf, um Griechenland beizustehen. Frankreichs Neokolonialismus und Erdogans Neo-Osmanismus sind sich im Mittelmeer und in Nordafrika auf breiter Front ins Gehege gekommen, während für den deutschen Imperialismus die Türkei traditionell das Tor zum Nahen Osten ist. Merkels Linie erfuhr Unterstützung durch die (Macron zufolge „hirntote“) NATO, die im Vorfeld einen heißen Draht zwischen den NATO-Mitgliedern Türkei und Griechenland aushandelte, um offenen Krieg zu vermeiden.

Der Gipfel plädierte für die Stärkung des EU-Binnenmarkts mit Hilfe des im Juli auf den Weg gebrachten Wiederaufbaufonds. Die Digitalisierung, bei der die EU gegenüber den USA und China zurückliegt, und der Übergang zur grünen Wirtschaft sollen Säulen der Erholung werden. An die Kommission ging der Auftrag, strategische Abhängigkeiten zu ermitteln und Vorschläge zu machen, sie zu verringern. Genannt wurden die Diversifizierung von Produktions- und Lieferketten, das Sichern von Vorräten, die Förderung von Produktion und Investitionen in Europa. Die Störanfälligkeit ausdifferenzierter globaler Lieferketten während der Coronakrise bestärkt eine Tendenz zur Regionalisierung im Rahmen der entschleunigten Globalisierung. Während Teile der US-Bourgeoisie die Entkoppelung von China wollen, verkündet die EU das Ziel, „strategische Autonomie zu erreichen und zugleich eine offene Wirtschaft zu bewahren“. Die exportabhängige deutsche Wirtschaft braucht China.

Zur neuen Resilienz gehört weniger Schwerfälligkeit bei Entscheidungen durch straffere Zentralisierung. Macron und Merkel wollen die Vetorechte der kleinen Länder loswerden. Länder wie Zypern werden sich vehement dagegen wehren. Gut so. Je mehr Sand im Getriebe des EU-Imperialismus, desto besser für die Welt.

UZ-Kolumne vom 9.102020 von Beate Landefeld

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