Europäische Souveränität, strategische Autonomie, Resilienz – die Schlagworte aus Brüssel geben die Richtung an, in die sich die EU entwickeln soll. Europäische Souveränität soll den Ausfall der USA als Übervater des Westens kompensieren. Strategische Autonomie auf allen Gebieten, vom Militär bis zur Wirtschaft, hält man für nötig, um sich als „europäische Wertegemeinschaft“ zwischen den protektionistischen USA und einem angeblich „aggressiv agierenden China“ zu behaupten. Resilienz soll die EU in einer Welt der Spannungen, Krisen, Krachs und Katastrophen fit machen, vieles auszuhalten, ohne zu bersten. Das Bedrohungsnarrativ trägt dem Wandel seit der Krise 2008 Rechnung. Die Globalisierung verlor an Tempo. Auf die weiter bestehenden Ungleichgewichte der Weltwirtschaft reagierten mächtige Akteure mit Protektionismus. Der US-Handelskrieg gegen China trägt neben den normalen Krisen zusätzliche Unberechenbarkeit in die Weltwirtschaft.
Der EU-Gipfel am 1./2.10.2020 rang um Gemeinsamkeit in der EU-Außenpolitik. Da es sich dabei um die Politik eines in sich widersprüchlichen imperialistischen Staatenverbunds handelt, klappt das in der Regel nur mit Hängen und Würgen. Diesmal blockierte Zypern, in dessen Hoheitsgewässern die Türkei gerade Gasvorkommen erkundet, den EU-Beschluss für Sanktionen gegen Belarus. Zypern meinte, zunächst müsse die Türkei sanktioniert werden. Nach zähen Verhandlungen gab sich das kleine Land damit zufrieden, dass die Türkei bis zur Dezembersitzung des EU-Rats verschont bleiben soll. Bis dahin will man Erdogans Regierung zu konstruktiven Verhandlungen animieren, nicht, ohne ihr gleichzeitig schärfere Sanktionen anzudrohen.
Angela Merkel warf sich für die Türkei in die Bresche. Als
NATO-Partnerin und Pfeiler der EU-Flüchtlingspolitik werde sie noch gebraucht. Dagegen
forderte Sebastian Kurz die Beendigung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der
Türkei. Emmanuel Macron fuhr schon Mitte August französische Kriegsschiffe im
Mittelmeer auf, um Griechenland beizustehen. Frankreichs Neokolonialismus und
Erdogans Neo-Osmanismus sind sich im Mittelmeer und in Nordafrika auf breiter
Front ins Gehege gekommen, während für den deutschen Imperialismus die Türkei
traditionell das Tor zum Nahen Osten ist. Merkels Linie erfuhr Unterstützung
durch die (Macron zufolge „hirntote“) NATO, die im Vorfeld einen heißen Draht zwischen
den NATO-Mitgliedern Türkei und Griechenland aushandelte, um offenen Krieg zu
vermeiden.
Der Gipfel plädierte für die Stärkung des EU-Binnenmarkts
mit Hilfe des im Juli auf den Weg gebrachten Wiederaufbaufonds. Die Digitalisierung,
bei der die EU gegenüber den USA und China zurückliegt, und der Übergang zur
grünen Wirtschaft sollen Säulen der Erholung werden. An die Kommission ging der
Auftrag, strategische Abhängigkeiten zu ermitteln und Vorschläge zu machen, sie
zu verringern. Genannt wurden die Diversifizierung von Produktions- und
Lieferketten, das Sichern von Vorräten, die Förderung von Produktion und
Investitionen in Europa. Die Störanfälligkeit ausdifferenzierter globaler Lieferketten
während der Coronakrise bestärkt eine Tendenz zur Regionalisierung im Rahmen
der entschleunigten Globalisierung. Während Teile der US-Bourgeoisie die Entkoppelung
von China wollen, verkündet die EU das Ziel, „strategische Autonomie zu
erreichen und zugleich eine offene Wirtschaft zu bewahren“. Die exportabhängige
deutsche Wirtschaft braucht China.
Zur neuen Resilienz gehört weniger Schwerfälligkeit bei
Entscheidungen durch straffere Zentralisierung. Macron und Merkel wollen die
Vetorechte der kleinen Länder loswerden. Länder wie Zypern werden sich vehement
dagegen wehren. Gut so. Je mehr Sand im Getriebe des EU-Imperialismus, desto
besser für die Welt.
UZ-Kolumne vom 9.102020 von Beate Landefeld
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