Moskau könne jederzeit neue Angriffe starten, während der Ukraine zunehmend die Munition ausgehe, klagte der österreichische Militärexperte Reisner am 24.11.2022 im ZDF-Interview. Laut New York Times kratzen USA und NATO derzeit überall Waffen zusammen, um die Ukraine zu beliefern und die eigenen Arsenale wieder aufzufüllen (29.11.2022). Die Munition der Bundeswehr reiche „im Ernstfall“ nur zwei Tage, schrieb die Berliner Morgenpost. Nachschub sei schwer zu beschaffen, da andere NATO-Staaten schneller orderten. Die Rüstungsindustrie weite die Kapazitäten nur aus, wenn langfristige Abnahme gesichert sei (28.11.2022). Lars Klingbeil spielte Schwarzer Peter, als er die Rüstungskonzerne zu mehr Tempo aufrief.
Ersatzteile für die Reparatur zerstörter Militärgeräte
fehlen ebenfalls. Ein „Munitionsgipfel“ mit Rüstungsindustriellen am 28.11.2022,
mit Kanzlerberater Jens Plötner, Wirtschafts-Staatssekretär Sven Giegold und Staatssekretär
Benedikt Zimmer vom Verteidigungsministerium, brachte keine unmittelbaren Resultate.
Laut dem Soldaten-Portal „Augen geradeaus“ warnten die Rüstungsproduzenten vor
zu hohen Erwartungen. Selbst wenn das nötige Material für die Produktion
vorhanden sei, müsse sich die Politik auf lange Lieferzeiten einstellen. Das
könnten auch Jahre sein.
Die bürgerlichen Medien bestätigen damit Prognosen des
thailändischen Geopolitik-Bloggers und früheren US-Marines Brian Berletic. Er
bewertete schon im September die spektakulären Geländegewinne der ukrainischen
Armee in Kharkiv und Kherson als nicht nachhaltig. Die Kosten an Menschen und
Material seien für die ukrainische Armee zu hoch. Beides sei nicht im Maße
ersetzbar, in dem es zerstört werde. Das führe zur Überdehnung der ukrainischen
Armee. Zugleich verstärke sich die russische Seite durch die anlaufende Mobilisierung.
Soweit die Prognosen sich auf die Waffen bezogen, sind sie jetzt auch im bürgerlichen
Mainstream angelangt.
Tritt damit Nüchternheit statt Siegeseuphorie ein? Längst
nicht! In der US-Administration drängen bisher nur realistische Militärs, wie
der Generalstabschef Mark Milley, auf Verhandlungen. Die Neocons, die seit 30
Jahren die US-Außenpolitik bestimmen, beanspruchen nach wie vor, die Welt nach
ihrem Bilde zu formen. Sie waren die ideologischen Antreiber des „War On
Terror“. Sie hielten die Auflösung der UdSSR für das Ende der Geschichte. Gegen
Warnungen und Bedenken auch in den USA trieben sie die NATO-Ostexpansion voran.
Im „Krieg gegen Terror“ wurden NATO-Armeen zu Interventionstruppen
umgebaut, fähig, schwächere Gegner „in die Steinzeit zu bomben“. An der
Territorialverteidigung wurde in allen NATO-Ländern „gespart“. Jetzt, wo es den
Neocons um die Eindämmung Russlands und Chinas geht, ist in Europa wieder
„Landesverteidigung“ angesagt. Militärexperte Gustav Gressel vom European
Council on Foreign Relations (ECFR) forderte dafür Anfang November einen
„umfassenden Nachrüstungsplan“ der NATO, der die Ukraine langfristig mit
Nachschub versorgt und die geleerten Arsenale der NATO-Staaten wieder füllt.
Alle scheuen sich, die Tatsache zu benennen, dass sie für
die Waffen- und Munitionsknappheit der ukrainischen Armee kurzfristig
keine Lösung haben. Dazu kommen hohe Todeszahlen, die Behinderung der Mobilität
der ukrainischen Truppen durch russische Angriffe auf das Energiesystem und
eine schwere Wirtschaftskrise. Im ZDF-Interview antwortete Oberst Reisner auf
die Frage, ob nicht auch die Russen Probleme haben: „Dass die Russen Probleme
haben, hören wir seit Beginn des Krieges, gerade vom britischen Geheimdienst …
Fakt ist, dass Russland es bis jetzt geschafft hat, auf der strategischen Ebene
ein Momentum aufrechtzuerhalten und dieses Momentum bedeutet, dass wenn immer
es die Russen entscheiden, es zu einer Angriffswelle gegen die Ukraine kommt.“
Kolumne von Beate Landefeld, erschien zuerst in UZ vom 9.12.2022
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