Mittwoch, 21. Oktober 2009

Kooperation und Konkurrenz

21.10.2009: Kooperation und Konkurrenz (Tageszeitung junge Welt)

Europäisiert sich die Bourgeoisie? Das deutsche Kapital bleibt trotz internationaler Durchdringung seiner Unternehmen tonangebend im eigenen Land und verschärft von dort aus die Konkurrenz

Von Beate Landefeld

Europäisiert sich die Bourgeoisie? Auf diese Frage soll mit drei Thesen eine Antwort versucht werden. Unter Bourgeoisie verstehe ich die ökonomisch herrschende Klasse, die über die wichtigsten Produktionsmittel verfügt, ihren Reichtum hauptsächlich aus dem Mehrprodukt bezieht und die aufgrund ihrer ökonomischen Macht auch in der Politik die in letzter Instanz entscheidende Rolle spielt. Neben den großen Kapitaleigentümern, der Großbourgeoisie im engeren Sinn, gehören die Manager mächtiger Konzerne, Banken und Versicherungen, die bourgeoise Gruppe der staatlichen Bürokratie und die Fraktion des Auslandskapitals dazu. Heinz Jung hat die Managerfraktion und die bourgeoise Gruppe im Staatsapparat als »kooptierte und aggregierte Gruppen der Bourgeoisie« charakterisiert, »die erst in dem Maße einen festen (und erblichen) Platz in ihr erhalten, wie sie in der Lage sind, kapitalistisches Eigentum zu bilden und kraft Eigentum Verfügung über das Mehrprodukt zu erlangen.«1
These 1
Die Zusammensetzung der deutschen Bourgeoisie blieb trotz »Globalisierung« relativ konstant. Das gilt auch für ihre internationale und europäische Durchdringung.

Die deutsche Wirtschaft ist hoch monopolisiert. Von über drei Millionen umsatzsteuerpflichtigen Firmen sind 99,7 Prozent kleine und mittlere Unternehmen. Die übrigen 0,3 Prozent erbringen 62 Prozent der Umsätze. Die größten 2000 davon, mit einem Umsatz ab 250 Millionen Euro, machen 0,1 Prozent aller Unternehmen aus und erbringen mehr als 40 Prozent aller Umsätze.2 Die Zeitung »Die Welt« stellt jährlich mit der TOP500-Liste, die 500 größten Konzerne der Bundesrepublik in Handel und Gewerbe vor, im Jahr 2008 Unternehmen mit einem Jahresumsatz ab 1,1 Milliarden Euro. Alle sind transnationale Konzerne, viele von ihnen sind in ihrer Branche, in einer Sparte oder in einem Segment Weltmarktführer.
Der britische Wissenschaftler David Harvey beschrieb den Neoliberalismus als Restauration von Klassenmacht. Auch in der BRD sind die Reichen in den Jahrzehnten des Neoliberalismus reicher und zahlreicher geworden. Hauptquelle des Reichtums ist wie eh und je die Akkumulation von Mehrwert. So waren 2008 von den 122 Milliardären der BRD 83 Eigentümer oder Großaktionäre von mindestens einer der 500 größten Firmen in Handel und Gewerbe; 15 weitere besaßen Firmen, die zu den 2000 größten Konzernen zählen. Bei den Milliardärsclans gibt es Familienholdings mit zum Teil Hunderten Gesellschaftern, die oft mehr als 100 Firmen kontrollieren. Die Überschneidung von Reichtum und Konzerneigentum ist also relativ groß.
Marx spricht vom Kapitalismus als einer Klassengesellschaft, in der die herrschende Klasse das Eigentum an den Produktionsmitteln monopolisiert. Die heutigen Monopole sind Ergebnis von über 100 Jahren Konkurrenz. Als Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind Monopole als konzentriertes und zentralisiertes Eigentum zu analysieren, nicht bloß als technische Produktionseinheiten in immer größerer Dimension. In der Bundesrepublik ist besonders viel Kapitaleigentum zentralisiert. Die Bestände an ausländischen Direktinvestitionen in deutscher Hand sind fast doppelt so hoch wie die an ausländischen Direktinvestitionen in der BRD.3
Große Konzerne finanzieren sich zunehmend über den Kapitalmarkt. Ausländische Investoren zu gewinnen wurde zum Markenzeichen für die eigene Profitabilität. Profitabilitätsbeschleunigung mit Hilfe des Drucks internationaler Finanz­investoren hat die heimische Bourgeoisie dabei keineswegs von den Kommandohöhen verdrängt. Sie zählt sich zu den Gewinnern der »Globalisierung«.
Kontrolle über eine Unternehmensgruppe bedeutet die Macht zu haben, das Management ein- oder abzusetzen. Diese Macht üben in Konzernen meist Großaktionäre aus, gegebenenfalls in Abstimmung mit Gläubigerbanken, Inhabern von Depotstimmrechten und ähnlichem. Fehlen Großeigner, wie bei Gesellschaftskapital überwiegend in Streubesitz, kann man von Managerkontrolle sprechen. Hier kontrollieren Spitzen von Unternehmen, Vertreter von Versicherungen, Fonds, Verbänden und Banken sich gegenseitig.
Für die 100 größten deutschen Konzerne in Handel und Gewerbe sah die Eigentümerstruktur 2008 wie folgt aus: 14 waren Töchter ausländischer Konzerne. Von den verbleibenden 86 waren 32 Inlandstöchter anderer deutscher Firmen unter den ersten 100. 39 wurden direkt oder indirekt von Kapitalistenclans kontrolliert. 23 standen unter Managerkontrolle. Bei 14 waren der Bund oder Gebietskörperschaften die maßgeblichen Aktionäre. Zehn wurden durch mehrere Minderheiten kontrolliert, drei davon als große Genossenschaften.
Von Interesse ist hier der Einfluß ausländischer kontrollierender Eigentümer. Neben den Töchtern ausländischer Konzerne gab es zwei Unternehmen in Streubesitz (Bayer und Infineon) mit so großen Anteilen ausländischer Investoren, daß sie als Konzerne in »ausländischer Hand« gezählt werden können. Bei den durch mehrere Minderheiten kontrollierten Konzernen gab es vier unter multi- oder binationaler Kontrolle (EADS, EnBW, TUI und Hochtief).
Mit 14 Auslandstöchtern und sechs multi- oder binational kontrollierten Unternehmen waren 2008 von den 100 größten Konzernen in Handel und Gewerbe 20 unter Kontrolle des Auslandskapitals. Ihr Umsatzanteil am Gesamtumsatz der 100 lag bei 18,23 Prozent.4 Unter den Auslandstöchtern waren acht aus den USA und sechs aus Europa, was keine spezifisch europäische Durchdringung erkennen läßt. Der multinationale Rüstungskonzern EADS ist dagegen ein politisch gewolltes gemeinsames Projekt vor allem der deutschen und französischen Bourgeoisie. Sein US-Rivale ist Boeing. EADS soll das Rüsten in Europa vom Militär-Industrie-Komplex der USA unabhängiger machen und größere Anteile am globalen Rüstungsgeschäft ermöglichen.
Der zahlenmäßige Anteil ausländisch kontrollierter Konzerne bei den 100 größten und ihr Anteil am Umsatz unterliegen seit 50 Jahren nur geringen Schwankungen. Auch wenn der Finanzsektor einbezogen wird, ändert sich daran nichts Signifikantes: Nach dem 17. Hauptgutachten der Monopolkommission hatten 2006 alle ausländisch kontrollierten Unternehmen (inklusive Finanzsektor) einen Anteil von 19 Prozent an den Umsätzen aller in der BRD tätigen Unternehmen.
An der Spitze der 50 größten Banken stehen Deutsche Bank und Commerzbank mit je drei Töchtern. 22 der 50 sind staatlich, sieben Genossenschaftsbanken. Acht sind Töchter ausländischer Banken, die größte davon die italienische Unicredit. An der Spitze der 30 größten Versicherungen stellen die Gruppen Allianz und Münchner Rück neun Institute. Zehn werden von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit (VVaG) kontrolliert, darunter die Talanx-Gruppe. Versicherungsmonopole anderer Länder Europas, wie die italienische Generali und die französische Axa, stellen sieben, ein US-Konzern eine Tochter.
Den Versicherungen ist stärker als den Banken eine gegenseitige Durchdringung der Märkte auf europäischer Ebene gelungen, deren Hauptträger die national basierten Monopolgruppen Allianz, Axa und Generali sind. Die Dominanz von Allianz, MünchnerRück und der VVaG im BRD-Markt ist dadurch nicht bedroht. Bei den Banken verhinderte das Drei-Säulen-Modell aus privaten Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken ein stärkeres Eindringen ausländischer Institute in den bereits aufgeteilten Markt.
Die Spitzen der drei Säulen des Bankensektors bilden mit den Spitzen der Versicherungswirtschaft, der staatlichen Förderbanken, der Frankfurter Börse und dem Bundesministerium für Finanzen die »Initiative Finanzstandort Deutschland«. Die IFD erarbeitet Konzeptionen zur Entwicklung des Finanzplatzes (z.B. zur Privatisierung der Altersvorsorge), zu Public Private Partnership oder zur Einführung von Real Estate Investment Trusts (REIT, Immobilien-Aktiengesellschaften mit börsennotierten Anteilen). Das 17köpfige staatsmonopolistische Gremium bezeichnet sich auf seiner Homepage als »flexible Aktionsgruppe ohne eigene Verwaltung«.5
Industrie, Handel und Finanzwirtschaft der BRD sind monopolistisch strukturiert. Die Gruppen an ihrer Spitze sind miteinander und mit dem Staat »bestens verdrahtet«. Sie kooperieren in offiziellen und inoffiziellen Gremien, Verbänden und Netzwerken. Das, was gemeinhin als »Auflösung der Deutschland AG« bezeichnet wird, darf daher nicht mit einer Auflösung der deutschen Bourgeoisie verwechselt werden. Es war eine Anpassung der deutschen Bourgeoisie an die Bedingungen einer verstärkten Weltmarktorientierung, die sie mit Unterstützung des Nationalstaats und auf Kosten von früher eingegangenen Klassenkompromissen vollzogen hat.
These 2
Die Transnationalisierung der Konzerne zielt auf den Weltmarkt und basiert auf der nationalen Monopolisierung.
1980 kamen 217 der 500 größten Konzerne der Welt aus den USA, 66 aus Japan und 168 aus Europa. 1990 waren es nur noch 164 US-Konzerne, 111 aus Japan und weiterhin 168 aus Europa. In der neuesten Liste des Magazins Fortune sieht es wie folgt aus: 140 US-Konzerne, 68 aus Japan, 37 aus China und 179 aus 18 europäischen Ländern.
Die Verschiebungen in den internationalen Konkurrenzpositionen sind deutlich: Der US-Anteil ist zwar immer noch der größte, aber die USA stellen ein Drittel weniger Konzerne als 1980. Japan stellt heute etwa so viele wie 1980, Anfang der 90er Jahre hatte es fast doppelt so viele (1992: 128). China stieg nach den USA, Japan, Frankreich und der BRD in den Kreis der fünf Länder auf, in denen die meisten Großkonzerne ihre Basis haben. Europa hat seinen Anteil von etwa einem Drittel der 500 größten Unternehmen leicht ausbauen können.
Zu Verschiebungen kam es auch innerhalb Europas. Großbritannien verlor stark: 1980 stellte es 52 Konzerne auf der Liste, 2008 mit 26 nur noch die Hälfte. Dagegen konnte Frankreich seine Zahl von 29 (1980) auf 40 (2008) steigern. Die BRD war 1980 mit 38, 1990 nur mit 30, 2008 wieder mit 39 vertreten. Diese drei Länder stellen allein 59 Prozent der europäischen Champions. Federn gelassen hat Schweden: von zehn (1980), über 17 (1990) auf sechs (2008). Zulegen konnten Italien, Spanien, die Niederlande, auch die Schweiz, die nicht in der EU ist. Sie stellen zusammen 27 Prozent der europäischen Konzerne. Die übrigen 21 EU-Länder sind in der Regel nur mit einem Unternehmen, zehn von ihnen mit gar keinem gelistet.
Es gibt ein deutliches Gefälle zwischen den drei Großen – Frankreich, BRD und Großbritannien – in weitem Abstand gefolgt von einem Mittelfeld aus Italien, Spanien und den Niederlanden sowie vom Rest der EU. Bei den drei Großen haben Frankreich und die BRD Großbritannien, das 1980 führte, klar überholt. Das zeigt: Erstens, die Länder entwickeln sich ungleichmäßig. Zweitens, die Rangfolge steht nicht ein- für allemal fest; sie ist in der Konkurrenz umkämpft. Zusammen erwirtschaften die Staaten des EU-Binnenmarkts das größte Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Welt. Das hat nicht zu einer Angleichung des Niveaus in der EU geführt, wohl aber dazu, daß europäische Großkonzerne ihren Anteil an den 500 größten Unternehmen der Welt leicht ausbauen konnten, während die der USA und Japans verloren.
Die »Globalisierung« wurde und wird in erster Linie von Monopolen getragen, die sich bereits auf nationalen Märkten etabliert haben. In Bereichen wie Post, Telekommunikation, Energie und zum Teil im Bankensektor trugen die Staaten mit umfangreichen Privatisierungen zur Schaffung »nationaler Champions« bei. Die transnationalen Ambitionen dieser Favoriten waren von vornherein nicht auf Europa beschränkt. Zunächst strebten alle danach, auf dem US-Markt präsent zu sein. Heute ist jeder große oder aufstrebende Konzern darauf aus, ebenso in China, möglichst auch in Rußland, Brasilien und Indien »aufgestellt« zu sein.
Die internationale Expansion der Konzerne erfolgt hauptsächlich durch Übernahmen, Fusionen oder Kooperationen mit schon vorhandenen Unternehmen. Kooperationen zielen auf Synergien und Konkurrenzvorteile gegenüber Dritten. Im Vergleich zu Kartellen sind Kooperationen flexibler und gezielter. Viele Konzerne restrukturierten sich durch die Konzentration auf »Kernbereiche« und die Auslagerung weniger profitabler Aktivitäten.
Internationale Expansion und Monopolisierung erfolgen daher vorwiegend entlang von Branchen, Sparten und Segmenten. Die Shareholder-Value-Orientierung treibt diese Verschlankung voran, und die internationale Arbeitsteilung vertieft sich durch sie. Sie macht die Konzerne aber auch störanfälliger und erzwingt internationale Koordination, ohne die Gesetze der Konkurrenz damit außer Kraft setzen zu können. Nicht nur den transnational agierenden Konzernmanagern, sondern auch den Staaten wuchsen dadurch neue internationale Aufgaben zu.
Da Filialen und Beteiligungen transnational agierender Firmen auf den relevanten nationalen und regionalen Märkten besonders dicht sind, sind die größten Konzerne zugleich auch diejenigen, die am stärksten zur Verflechtung innerhalb Europas beitragen. Daraus folgt jedoch nicht, wie Jörg Huffschmid betont hat, »daß die Sieger im europäischen Positionsgefecht dadurch europäischer werden – eher im Gegenteil. Sie werden sich zwar weder von ihrer nationalen Basis noch von ihrer nationalstaatlichen Protektion lösen –, aber gerade sie richten ihre Interessen in besonderem Maße auf andere Teile der Welt.«6
These 3
Die EU ist Feld der Kooperation und Konkurrenz der kapitalistischen Staaten Europas. Einer realen Integration sind damit Schranken gesetzt.
Das politische Gewicht der einzelnen EU-Staaten in der globalen Hierarchie entspricht in etwa der Zahl der in ihnen verankerten 500 größten Konzerne der Welt: Die BRD, Frankreich, Großbritannien und Italien gehörten schon zu den G-7- bzw. G-8-Staaten. Für die Aufsteiger Niederlande und Spanien handelte der französische Staatschef Nicolas Sarkozy mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen George W. Bush zwei zusätzliche Plätze am G-20-Tisch aus. Sechs EU-Länder sind damit auf den Weltwirtschaftskrisengipfeln direkt vertreten. Die übrigen 21 werden durch die offizielle EU-Spitze repräsentiert. Das Ziel, die EU zum politischen Schwergewicht in der Welt zu machen, wird durch den eigenständigen Weltgeltungsdrang ihrer großen Staaten stets überlagert und oft auf bloßen Symbolismus reduziert.
Die deutsch-französische Allianz gilt als Kern der EU. Die herrschenden Kreise beider Staaten können weltpolitisches Gewicht nur (wieder-)erlangen, wenn sie an einem Strang ziehen. Das schließt Rivalität um die Führungsrolle nicht aus. Frankreich will schon länger eine gemeinsame Wirtschaftsregierung der Eurozone. Aus Sicht Berlins verbirgt sich dahinter ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) und die jährliche Verschuldungsobergrenze von drei Prozent. Die in der Regel restriktive Geldpolitik der EZB begünstigt die Exporte der BRD und belastet die Leistungsbilanz der Nachbarn. Der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel hat diesen in der Tradition der Bundesbank stehenden Kurs als »imperialistische Exportpolitik mit sinkenden Lohnstückkosten« bezeichnet.7
Für die deutsche Bourgeoisie waren und sind die »Stabilitäts«-Kriterien die Geschäftsgrundlage für ihre Zustimmung zur gemeinsamen Währung. Ihr Vertrauen in die Fähigkeit der Eliten der anderen Euroländer, die Lohn- und Sozialkosten auf Dauer niedrig zu halten, war stets gering. Besonders die »weiche Südflanke« der EU ist ihr verdächtig. Das hängt mit Unterschieden in den historischen Traditionen und Klassenverhältnissen zusammen.
Anfang 2009 setzte sich Sarkozy mit Italiens Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker für eine gemeinsame Euro-Anleihe ein. Hoch verschuldete Länder wie Griechenland und Italien müßten dann geringere Zinsen zahlen. Die gute Bonität der BRD hätte nur ein wenig gelitten. Bundesbankchef Axel Weber war ausdrücklich gegen die Euroanleihe, da sie »die disziplinierende Wirkung der Finanzmärkte« auf die verschuldeten Länder mindern würde.
Ob Euroanleihe, gemeinsame Wirtschaftsregierung oder der gemeinsame Stabilisierungsfonds für Unternehmen – alle Vorstöße Sarkozys und anderer in Richtung des Ausbaus einer gemeinsamen staatsmonopolistischen Krisenregulierung der EU wurden von der Bundeskanzlerin Angela Merkel abgewiesen. Es kam nur zur Koordinierung nationaler Rettungsmaßnahmen. Die Kosten für eine Vertiefung der Integration sind der BRD-Politik zu hoch. Sie setzt weiter auf Deregulierung und Disziplinierung durch den Markt. Das begünstigt die starken BRD-Konzerne. Die Unterschiede im Entwicklungsniveau der Länder werden dadurch jedoch verstärkt.
Das Verhältnis der anderen Regierungen zum restriktiven »Stabilitätspakt« ist zwiespältig. Er vermindert die Flexibilität, mit der sie auf Krisen und innere soziale Unruhen reagieren können. Andererseits können sie die Abwälzung von Lasten auf die Bevölkerung als äußeren Sachzwang darstellen. So verkörpert die EU-Kommission in der Innenpolitik aller Staaten die Zumutungen der »Globalisierung«. Die von ihr profitierenden Eliten bleiben dabei verborgen, der Klassencharakter von Regierungshandeln wird verschleiert.
Oft wird dabei eine nationalistische Stimmung geschürt, auch in der BRD: Gegen ein EU-weites Konjunkturprogramm wetterte der damalige Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) Ende letzten Jahres, daß jeder Vorschlag, der »vom EU-Präsidenten oder auch von Frankreich gemacht« werde, »im Zweifelsfall darauf hinaus(-laufe), daß die Deutschen zahlen«.8 Inflationsängste der deutschen Bevölkerung werden hier ganz im Interesse der »eigenen« Konzerne geschürt. Die Löhne und den Binnenmarkt kleinzuhalten, das verschafft Kostenvorteile beim Ringen um Großaufträge aus den Konjunkturprogrammen der USA und Chinas. Die EU hätte für eigene Programme ohnehin nicht die Mittel. Ihr Haushalt für das Jahr 2009 beträgt gerade einmal 116 Milliarden Euro. Der Etat der BRD umfaßt im gleichen Jahr 297 Milliarden Euro.
»Wir wollen gestärkt aus der Krise hervorgehen«, so Merkel. Appelle an das Nationalgefühl sollen, wie schon immer in der Vergangenheit, die arbeitenden Menschen bei der Stange halten. Die Bourgeoisie braucht den bürgerlichen Staat nicht zuletzt, um klassenübergreifende Gemeinschaftsgefühle zu erzeugen, die die arbeitende Bevölkerung zu ständig neuen Opfern bewegen sollen. Das kann letztlich nur mit dem praktischen Kampf der Arbeiterbewegung gegen die herrschende Klasse des eigenen Landes durchkreuzt werden.
Um die NATO-Osterweiterung durch die EU zu unterfüttern, drängen die USA auf die möglichst rasche Aufnahme der Türkei und kleiner östlicher Staaten. Die herrschenden Kreise der BRD und Frankreichs fürchten dagegen um die politische Steuerbarkeit einer zu schnell wachsenden EU. Der Vertrag von Lissabon soll dies durch eine hierarchische Zentralisierung verhindern. Ob wachsende Unterschiede im Entwicklungsniveau und die zunehmende soziale Polarisierung durch mehr Zentralismus gebändigt werden können oder ob dieser Zentralismus in Krisensituationen nicht eher desintegrierend wirkt, ist jedoch eine offene Frage.
1 Heinz Jung/Josef Schleifstein: Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus und ihre Kritiker, Frankfurt/Main 1979, S. 70
2 Zahlen: Institut für Mittelstandsforschung (IfM) Bonn für 2006: www.ifm-bonn.org/index.php?id=579
3 Laut Bundesbankstatistik betrugen die Bestände an ausländischen Direktinvestitionen in der BRD 2006 konsolidiert 439 Milliarden Euro, die BRD-Bestände im Ausland im gleichen Jahr 811 Milliarden Euro. Der Stern vom 31.1.2008 (S.57, 69) berichtet für 2005 von 390 Milliarden Euro ausländischem Investitionsbestand in der BRD bei 840 Milliarden deutschem Investitionsbestand im Ausland.
4 Berechnet auf der Basis der Umsätze von 2007. Vgl. Beate Landefeld: Finanzgetriebener Kapitalismus. Was macht eigentlich die Bourgeoisie?, www.neue-impulse-verlag.de/mbl/masch-skripte
5 Vgl. http://www.finanzstandort.de/
6 Jörg Huffschmid: Wem gehört Europa?, 2 Bände, Heilbronn 1994, Bd. 2, S. 21
7 Rudolf Hickel: Der Euro ist unschuldig, FR online.de vom 13.2.2009
8 HB online 8.12.2008; Presseinfo Europäisches Parlament 18.12.2008; www.bundesfinanzministerium.de/bundeshaushalt2009/pdf/vsp_2.pdf
* Beate Landefeld hielt am 10. Oktober 2009 in Wuppertal diesen Vortrag im Rahmen der Tagung »Die EU 2009 – Welche Alternative?« der Marx-Engels-Stiftung. Landefeld ist Mitherausgeberin der Marxistischen Blätter
21.10.2009: Kooperation und Konkurrenz (Tageszeitung junge Welt)

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