Freitag, 10. Februar 2017
Der Schau-mir-in-die-Augen-Vorschuss
Noch vor Kurzem
lobten die Spitzen der Großen Koalition sich selbst und den Zustand des von
ihnen regierten Landes überschwänglich: Die Wirtschaft sei am Brummen, die
Arbeitslosigkeit niedrig wie jahrzehntelang nicht, Steuertöpfe und Sozialkassen
gefüllt und all das ohne Neuschulden. „Noch nie ging es uns so gut wie heute“,
prahlten sie. Das war eine Beschönigung, die über die prekäre Lage eines Großteils
der hiesigen Lohnabhängigen hinwegsah und sich über das Elend, das Berlins
Austeritätsdiktate in Südeuropa hinterlassen haben, ausschwieg.
Nach dem
Brexit-Votum und der Trump-Wahl räumte die smarte Kriegsministerin Ursula von
der Leyen in einer Talkshow ein, dass „die Globalisierung“ nicht nur Gewinner
kenne. Es gebe „Globalisierungsverlierer“, die für die „einfachen Lösungen“ der
„Populisten von rechts und links“ anfällig seien. Die „Lösungen“ der
Herrschenden sind nicht „einfach“, sondern „komplex“, aber trotzdem ziemlich
durchsichtig. Sie preisen mit schöner Regelmäßigkeit die Agenda 2010, die neoliberale
Deregulierung, die Privatisierung, die Prekarisierung als „Reformen“, die „Deutschland“
stark gemacht hätten. In der Realität haben kapitalistische Ausbeutung und neoliberale
Umverteilung von unten nach oben die Reichen reicher und die Armen zahlreicher
gemacht. Die untere Mittelschicht fühlt sich vom Abstieg bedroht.
Doch nun kommt
Martin Schulz und will die „Vergessenen und Zurückgelassenen“ zum Thema machen.
Es sind viele. Schulz benennt einige im Interview mit Anne Will: der Busfahrer,
die Krankenpflegerin, der Bäcker, der Feuerwehrmann, die Verkäuferin, der
Polizist, der Altenpfleger, jene, die als Familien keine bezahlbare Wohnung
finden, Frauen, die abends auf der Straße Angst haben, Eltern, die sich über
marode Schulgebäude ärgern, Landbewohner, für die ein Arzt zu weit weg ist,
Anwohner ohne Bushaltestelle, Ehepaare, die beide arbeiten müssen, die gesamte „hart
arbeitende Mitte“, alle, die Angst vor Altersarmut haben. Ihnen sagt Schulz: Da
will einer Kanzler werden, der unsere Sorgen kennt, benennt und mit ins
Kanzleramt nimmt.
Die Agenda 2010,
die den deutschen Großkonzernen von einer Exportweltmeisterschaft zur nächsten
verhalf, brachte einen Großteil ehemaliger SPD-Anhänger in eine prekäre
Lebenslage. Der Vertrauensbruch kostete die SPD die Hälfte ihrer Wähler. Schulz
will sie von den Nichtwählern und den anderen Parteien zurückholen. Heute seien
bei Wahlen viele Überraschungen möglich. Schulz spekuliert auf das, was die belgische
Politologin Chantal Mouffe eine „populistische Situation“ nennt. Er entlehnt
vom linken Labour-Führer Jeremy Corbyn den Wahlspruch: „Kein Mensch darf
zurückgelassen werden!“ Doch Corbyn kämpft seit Jahrzehnten gegen NATO-Kriege
und Sozialabbau, stützt sich auf eine Basisbewegung, wird von den Blairisten,
dem neoliberalen Flügel von Labour wütend bekämpft. Schulz dagegen folgt der Linie
des Schröder/Blair-Papiers, hat sich nie von der Agenda 2010 abgesetzt.
Als hoher
EU-Funktionär war Schulz mitverantwortlich für die Austeritätsdiktate gegen Südeuropa,
die das Volk, Lohnabhängige, Rentner, Bauern und Kleingewerbetreibende zwingen,
für die Rettung der Großbanken zu zahlen. Er verteidigt das Euro-System, welches
die Spaltung Europas immer tiefer macht. Nach Brexit und Trump-Wahl sind die Absatzmärkte
für die deutschen Exportüberschüsse weniger offen. Die auseinanderdriftende EU soll
durch Militarisierung und Russophobie zusammengehalten werden. Poroschenko darf
in der Ukraine wieder zündeln. Die Kriegsgefahr wächst. Bei all dem wird Schulz
weiter mitmachen.
In der Anne
Will Show bat er eine Essener Verkäuferin und einstige SPD-Wählerin: „Schau mir
in die Augen und gib mir den Vertrauensvorschuss.“ Doch wer bekommt schon
Kredit auf schöne Augen? Schulz! So suggerieren es erste Umfrageergebnisse.
Kommentar von Beate Landefeld in UZ vom 10.2.2017
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