Freitag, 7. Juni 2019
Konfrontation statt Offenheit - Merkels Harvard-Rede und die Realität.
Im Mai 2017, nach ersten Polter-Auftritten des neuen
US-Präsidenten Trump bei den G7, hielt Kanzlerin Merkel auf einem CSU-Treffen
ihre von der Qualitätspresse hoch gelobte „Bierzeltrede“. Kernaussage: „Wir
Europäer müssen unser Schicksal … in unsere eigene Hand nehmen“. Die Zeiten, in
denen „wir uns auf andere verlassen konnten“, seien „ein Stück weit vorbei“. Das
gab dem EU-Militarismus einen Schub. Im Mai 2019 hielt die Kanzlerin wieder
eine beachtete Rede, diesmal zu Absolventen der US-Eliteuniversität Harvard. Sie
pries das 70 Jahre alte, „wertebasierte“ transatlantische Bündnis, forderte
Kampf gegen Klimawandel, freien Welthandel statt Protektionismus, Offenheit
statt Mauern, multilateral statt unilateral, global statt national. Wahrheiten
dürften nicht Lügen genannt werden und Lügen nicht Wahrheiten. In Harvard, dem
wissenschaftlichen Zentrum der liberalen Ostküsten-Elite, brandete bei jedem Seitenhieb
gegen Trump Beifall auf.
Trumps aggressive Handelspolitik belastet die Börsen. Angedrohte
hohe Zölle gegen die EU sind nur aufgeschoben. Unterm Damokles-Schwert nahm die
deutsche Qualitätspresse Merkels Harvard-Rede gespalten auf. Jubel bei Bild und Spiegel.online über „Merkelmania“ und „Standing Ovations“ (31.5.). Dagegen
war sie für FAZ-Kommentator
Frankenberger eine „mittlere Katastrophe“ (31.5.). Im Cicero nannte Politikwissenschaftler Jäger die Rede „richtig, aber
unklug“. Merkel habe sie ja nicht auf dem Mars gehalten, sondern in den USA am
Beginn eines Präsidentschaftswahlkampfs (31.5.). Den US-Korrespondenten der Deutschen Welle M. Knigge plagte etwas anderes:
„Während sie die wertebasierte transatlantische Partnerschaft lobte, von der
sowohl Deutschland als auch die USA mehr als 70 Jahre lang profitiert
hätten, gab sie weder ein Gelübde noch eine Prognose ab, dass diese noch
weitere sieben Jahrzehnte Bestand haben werde“ (31.5.).
Merkels Rede war autobiographisch gefärbt, im Stil einer
Seifenoper (DDR-Diktatur, Mauer, Mauerfall, Freiheit, Bundeskanzlerin). Hinter den
„Werten“ war das nackte Interesse der exportabhängigen deutschen Großkonzerne an
der „Offenheit“ des US-Binnenmarkts erkennbar. Doch viele Medien der hiesigen
Bourgeoisie nahmen die Rede als „entrückt“ und als „Abschiedsrede“ wahr. Merkel
sei reif für das Leben nach der Politik. „Sie hat es gut“, schrieb A. Seibel in
der Welt. (31.5.). Die Verschiebungen in der Welt, der
schrumpfende Anteil der USA wie der EU an der Weltwirtschaft, der Aufstieg
Chinas, die aktive Rolle Russlands, das Scheitern von Versuchen einer Rekolonisierung
vertiefen die Widersprüche in der Lage der deutschen Bourgeoisie. Die USA
setzen zur Rettung ihrer Vorherrschaft zunehmend auf Zwang, statt Führung. Der
Zugang zum US-Binnenmarkt dient als Erpressungsmittel, um die Einhaltung von
Sanktionen zu erzwingen. Wird sich das je wieder ändern?
Während Harvard Merkel zujubelte, tüftelten in Washington Republikaner
und Demokraten gemeinsam an einem Gesetz, das den Bau der Ostseepipeline
Nordstream 2 in letzter Minute verhindern soll. Am 31.5. machte US-Außenminister
Pompeo in Berlin Druck: gegen Nordstream 2 und Huawei, für Iran-Sanktionen.
EVP-Spitzenkandidat Weber (CSU) will Kommissionspräsident werden und lehnt Nordstream
2 ab, wie Polen und Balten es fordern. Ebenso die Grünen. Berlin will Huawei
vom 5G-Ausbau in Deutschland zwar formal nicht ausschließen. Real verlangt man „Sicherheitsgarantien“,
hält sich also alles offen. Die Telekom empfahl ihren Mitarbeitern, keine
Huawei-Handys mehr zu kaufen. Das formale Festhalten der EU am Iran-Abkommen wurde
durch Großkonzerne wie Siemens und Total unterlaufen. Statt Merkels
Harvard-Offenheit herrschen in der Praxis Anpassung und Unterordnung unter die
Konfrontationspolitik des absteigenden Hegemons. Man will mit ihm im Boot
sitzen.
UZ-Kolumne von Beate Landefeld vom 7.6.2019
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