Montag, 31. Juli 2023

NATO-Gipfel in Vilnius. Zeit der Enttäuschungen.

Der Gipfel in Vilnius werde „die Erwartungen unserer Gesellschaft enttäuschen,“ erklärte Kirill Budanow, ukrainischer Geheimdienstchef im Interview mit The Times. Enttäuschung auch an der Front. Hatten die NATO-Staaten von der mehrmals verschobenen ukrainischen Offensive schon keinen Sieg mehr erwartet, so doch die Verbesserung der „Verhandlungsposition der Ukraine“. Das steht in Anführungszeichen, weil es keine Verhandlungen gibt. Ein Gespräch Lawrows mit Vertretern des US-Council on Foreign Relations in New York am Rande der UN-Sicherheitsratssitzung im April deklarierten Washington und Moskau im Juli als „Nicht-Verhandlung“. Initiiert hatte es jener Flügel des US-Establishments, der das Ukraine-Engagement kritisiert, da es auf Kosten von US-Interessen in anderen Teilen der Welt und von Ressourcen für die Auseinandersetzung mit China gehe.

An der Front war der Wunsch einer besseren Verhandlungsposition nach fünf Wochen Offensive mangels Geländegewinn obsolet. Schuld ist der Westen, der die Ukraine nicht mit der nötigen Munition versorgt habe, sagen Selenskyj und die Falken der NATO-Länder. Noch verdrängen sie die objektive Realität, dass die Waffenlager der NATO sich leeren und die Ukraine die Waffen schneller verbraucht als die NATO sie produzieren kann. Selenskyj will vielmehr wissen, dass noch nicht ausgehobene Schätze in den Waffenarsenalen des Westens schlummern. Er will einen Teil davon! Zudem solle der NATO-Gipfel die Moral anheben, indem er einen klaren Fahrplan für den NATO-Beitritt der Ukraine beschließt.

Biden, Scholz, Stoltenberg lehnten schon ab. „Dann wären wir alle im Krieg mit Russland“, sagte Biden. Angela Merkel meinte schon 2008, als George W. Bush beim NATO-Gipfel in Budapest die Aufnahme Georgiens und der Ukraine vorschlug, Putin werde das als Kriegserklärung interpretieren. Namhafte Politologen der USA wie Mearsheimer warnten über Jahrzehnte vor der Brüskierung der Sicherheitsinteressen Russlands. Sie werde irgendwann Krieg provozieren. Ende 2021 machte die RF eigene Vorschläge zur europäischen Sicherheitsarchitektur. Ernste Verhandlungen darüber hätten den Krieg vermeiden können. Ende März 2022 sah das Istanbul-Abkommen von RF und Ukraine militärische Neutralität der Ukraine vor. Der Westen brachte es zu Fall.

Als Alternative bot Boris Johnson Selenskyj Waffenlieferungen für die Rückeroberung abtrünniger Gebiete. Selenskyj beharrt jetzt auf der Erfüllung des Pakts mittels mehr Waffen und mehr direktem Eingreifen von NATO-Staaten. Eine Idee ist eine Truppen stellende „Koalition der Willigen“. Auch die Androhung eines angeblich „russischen Anschlags“ auf das AKW ZNPP soll das Eingreifen mitbetroffener NATO-Staaten bewirken. Polen und baltische Länder wollen die Ukraine zwar in der NATO haben, eine „Koalition der Freiwilligen“ aber nicht stellen. Der US-Republikaner Mike Pence machte beim Besuch in Kiew deutlich, selbst die Explosion des ZNPP werde kein Eingreifen der NATO bewirken.

Offiziell werden die NATO-Mächte in Vilnius erneut die Unterstützung der Ukraine „as long as it takes“ (solange wie nötig) beschwören. Dass die Waffen- und Munitionslager der NATO sich leeren, während die Friedhöfe der Ukraine sich ausdehnen, können auch sie nicht mehr lange verdrängen. Zur Begründung der Lieferung von Cluster-Bomben gab Biden zu, dass normale Artilleriemunition zur Neige gehe. Im britischen The Guardian befürchtet Simon Tisdall: „Bringt die laufende Konteroffensive keinen Durchbruch, gehen die Waffen aus, kommt eine neue Energiekrise im Winter und lässt die öffentliche Unterstützung im Westen weiter nach, besteht das Risiko, dass Selenskyj zu Verhandlungen gezwungen wird – sogar zum Tausch von Land für Frieden“ (8.7.2023). Warum nicht gleich verhandeln? Durch die Cluster-Bomben wird es nicht besser werden.

Beate Landefeld 

Die Kolumne erschien zuerst in Unsere Zeit vom 14. Juli 2023

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