Freitag, 13. Oktober 2023

Wie den Ukrainekrieg beenden? Diplomatie wurde verlernt

Die ukrainische Offensive zur „Rückeroberung der Krim“ läuft länger als vier Monate und kommt nicht vom Fleck. Die Berichte hiesiger Medien werden langsam nüchterner. Gabor Steingart nennt „unbequeme Putin-Wahrheiten, die der Westen nicht länger ignorieren sollte“. Fazit: „Der Westen hat den Kriegsherrn Putin ökonomisch nicht entscheidend geschwächt, international nicht isoliert und militärisch nicht besiegt“ (focus.de 1.10.2023). Paul Ronzheimer, Eigenbezeichnung „Bild-Vize“, klagt über Kriegsmüdigkeit und „bröckelnde Unterstützung“ aus EU und USA, während die Lage für die Ukraine „derzeit nicht weniger bedrohlich, sondern noch bedrohlicher geworden“ sei (bild.de 3.10.2023).

Steingart sieht die „Stunde der Diplomaten“ gekommen. Ronzheimer gehört zu den Kriegstreibern, die durch mehr und größere Waffenlieferungen den Glauben an militärischen Sieg wiederbeleben und den Krieg am Laufen halten wollen. So oder so: Der Westen hat weder die Diplomaten, nach denen Steingart ruft, noch die Kapazitäten für Waffenproduktion, die nötig wären, um die Erschöpfung und Erosion der ukrainischen Armee aufzuhalten. Auskunft über Waffenbestände gab zuletzt Rob Bauer, der Vorsitzende des Militärausschusses der NATO: „Der Boden des Fasses ist jetzt sichtbar.“ Kriegsminister der einzelnen NATO-Länder verweisen seit Wochen darauf.

Diplomatie basiert auf gegenseitiger Berücksichtigung von Interessen. Die Neocons eroberten als Ideologen des globalen Führungsanspruchs der USA nach dem Sieg im Kalten Krieg die Schalthebel der US-Außenpolitik. Die Kräfteverhältnisse des „unipolaren Moments“ animierten zur ungehinderten Machtentfaltung des US-Imperiums, nicht zur Berücksichtigung fremder Interessen. Im Zuge von EU- und NATO-Osterweiterungsrunden profitierte davon gerade auch die deutsche Bourgeoisie. Diplomatie gewöhnten sich die Oberen in USA, EU und NATO in dieser Phase ab. Chinas Aufstieg machte sie relativ schwächer. Es wird aber viel Zeit und eine Reihe Niederlagen kosten, bis sie wieder Diplomatie lernen.

Der ukrainischen Armee fehlen Waffen. Sie verlor mehrere Hunderttausend Soldaten. Erfolgsmangel, hohe Verluste, kaum ausgebildete Zwangsrekrutierte, ein Durchschnittsalter über 40, Korruption der Vorgesetzten drücken auf die Moral. Die Zahl der Überläufer wächst. Es sind nicht mehr nur einzelne, sondern ganze Gruppen. David Ignatius, Korrespondent der Washington Post, prominenter Neocon und mit US-Geheimdiensten gut vernetzt, sieht die Ukraine vor der „schweren Wahl“, weiterzukämpfen „as long as it takes“ und für einen voraussichtlich unerreichbaren Sieg auszubluten oder einen Weg zu suchen, den Konflikt einzufrieren, mit Sicherheitsgarantien der USA (WP 5.12.2023).

Das „Einfrieren“ ist die von der Biden-Administration favorisierte Lösung. Das Team Biden will vor der Präsidentenwahl 2024 kein „zweites Afghanistan“. USA, NATO und EU locken die Westukraine mit „Sicherheitsgarantien“ im Übergang bis zur NATO-Aufnahme (= „deutsche“ oder „koreanische“ Lösung). Der Haken: Selenskyj, Geheimdienstchef Budanow und die banderistische Führungsschicht der Ukraine lehnen ein „Einfrieren“ des Frontverlaufs kategorisch ab. Selenskyjs „Peace Formula“ sieht Russlands Kapitulation und Abzug hinter die Grenzen von 1991 faktisch als Voraussetzung für Friedensverhandlungen.

Über das „Einfrieren“ wird ohne Russland diskutiert. Der Westen weiß, dass Russland die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ablehnt. Er will sie, wie bisher, einseitig durchsetzen. Der NATO ging es immer primär um die eigene Ostexpansion, nicht um die Ukraine. Russland wiederum wird sich auf kein „Einfrieren“ einlassen, ist aber bereit, über „substanzielle Vorschläge“ zur Beendigung des Kriegs und zur Friedensarchitektur in Europa zu verhandeln, die die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten berücksichtigen.

Die Kolumne von Beate Landefeld erschien zuerst in der UZ vom 13. Oktober 2023

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