Die ukrainische Offensive zur „Rückeroberung der Krim“ läuft länger als vier Monate und kommt nicht vom Fleck. Die Berichte hiesiger Medien werden langsam nüchterner. Gabor Steingart nennt „unbequeme Putin-Wahrheiten, die der Westen nicht länger ignorieren sollte“. Fazit: „Der Westen hat den Kriegsherrn Putin ökonomisch nicht entscheidend geschwächt, international nicht isoliert und militärisch nicht besiegt“ (focus.de 1.10.2023). Paul Ronzheimer, Eigenbezeichnung „Bild-Vize“, klagt über Kriegsmüdigkeit und „bröckelnde Unterstützung“ aus EU und USA, während die Lage für die Ukraine „derzeit nicht weniger bedrohlich, sondern noch bedrohlicher geworden“ sei (bild.de 3.10.2023).
Steingart sieht die „Stunde der Diplomaten“ gekommen. Ronzheimer
gehört zu den Kriegstreibern, die durch mehr und größere Waffenlieferungen den
Glauben an militärischen Sieg wiederbeleben und den Krieg am Laufen halten
wollen. So oder so: Der Westen hat weder die Diplomaten, nach denen Steingart
ruft, noch die Kapazitäten für Waffenproduktion, die nötig wären, um die Erschöpfung
und Erosion der ukrainischen Armee aufzuhalten. Auskunft über Waffenbestände gab
zuletzt Rob Bauer, der Vorsitzende des Militärausschusses der NATO: „Der Boden
des Fasses ist jetzt sichtbar.“ Kriegsminister der einzelnen NATO-Länder verweisen
seit Wochen darauf.
Diplomatie basiert auf gegenseitiger Berücksichtigung von
Interessen. Die Neocons eroberten als Ideologen des globalen Führungsanspruchs
der USA nach dem Sieg im Kalten Krieg die Schalthebel der US-Außenpolitik. Die
Kräfteverhältnisse des „unipolaren Moments“ animierten zur ungehinderten
Machtentfaltung des US-Imperiums, nicht zur Berücksichtigung fremder
Interessen. Im Zuge von EU- und NATO-Osterweiterungsrunden profitierte davon gerade
auch die deutsche Bourgeoisie. Diplomatie gewöhnten sich die Oberen in USA, EU und
NATO in dieser Phase ab. Chinas Aufstieg machte sie relativ schwächer. Es wird aber
viel Zeit und eine Reihe Niederlagen kosten, bis sie wieder Diplomatie lernen.
Der ukrainischen Armee fehlen Waffen. Sie verlor mehrere
Hunderttausend Soldaten. Erfolgsmangel, hohe Verluste, kaum ausgebildete
Zwangsrekrutierte, ein Durchschnittsalter über 40, Korruption der Vorgesetzten
drücken auf die Moral. Die Zahl der Überläufer wächst. Es sind nicht mehr nur
einzelne, sondern ganze Gruppen. David Ignatius, Korrespondent der Washington
Post, prominenter Neocon und mit US-Geheimdiensten gut vernetzt, sieht die
Ukraine vor der „schweren Wahl“, weiterzukämpfen „as long as it takes“ und für
einen voraussichtlich unerreichbaren Sieg auszubluten oder einen Weg zu suchen,
den Konflikt einzufrieren, mit Sicherheitsgarantien der USA (WP 5.12.2023).
Das „Einfrieren“ ist die von der Biden-Administration
favorisierte Lösung. Das Team Biden will vor der Präsidentenwahl 2024 kein
„zweites Afghanistan“. USA, NATO und EU locken die Westukraine mit
„Sicherheitsgarantien“ im Übergang bis zur NATO-Aufnahme (= „deutsche“ oder
„koreanische“ Lösung). Der Haken: Selenskyj, Geheimdienstchef Budanow und die banderistische
Führungsschicht der Ukraine lehnen ein „Einfrieren“ des Frontverlaufs kategorisch
ab. Selenskyjs „Peace Formula“ sieht Russlands Kapitulation und Abzug hinter
die Grenzen von 1991 faktisch als Voraussetzung für Friedensverhandlungen.
Über das „Einfrieren“ wird ohne Russland diskutiert. Der
Westen weiß, dass Russland die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ablehnt. Er will
sie, wie bisher, einseitig durchsetzen. Der NATO ging es immer primär um die
eigene Ostexpansion, nicht um die Ukraine. Russland wiederum wird sich auf kein
„Einfrieren“ einlassen, ist aber bereit, über „substanzielle Vorschläge“ zur
Beendigung des Kriegs und zur Friedensarchitektur in Europa zu verhandeln, die
die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten berücksichtigen.
Die Kolumne von Beate Landefeld erschien zuerst in der UZ vom 13. Oktober 2023
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