„Baerbock befindet sich auf einem erschreckenden Irrweg,“ schreibt Benjamin Graumann in Springers „Welt“ (4.10.2024). Im „Focus“ fragt Ulrich Reitz: „Sieht der Kanzler nicht oder will er nicht sehen, dass seine Außenministerin – seit Wochen schon – falsch abgebogen ist, und inzwischen droht, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen?“ (30.9.2024) Was ist passiert? CDU-nahe Medien und pro-israelische Hardliner aus CDU, Grünen und SPD verdächtigen Baerbock, von der Linie „Verteidigung Israels ist deutsche Staatsräson“ abzuweichen: Sie habe sich in den UN enthalten, statt mit USA und Israel zu stimmen, sie habe Waffenlieferungen an Israel beschränkt und Fördermittel für die UNRWA zu schnell erneut bewilligt.
Empört reagiert diese Lobby auch auf Baerbocks Äußerung, die Ermordung des Hisbollah-Führers Nasrallah bewirke noch mehr Destabilisierung und sei nicht im Interesse Israels. Israels Regierung widersprach. Stein des Anstoßes ist zudem die Enthaltung der BRD bei der UN-Resolution vom 18.9.2024, die Auflagen des IGH umsetzt. Im Zentrum der Resolution steht die Forderung an Israel, binnen eines Jahres alle nach 1967 besetzten Gebiete zu räumen, damit ein Palästinenserstaat errichtet werden kann. Dafür stimmten 124 Staaten, 12 davon EU-Mitglieder. Dagegen stimmten 14, darunter die USA, Israel, Argentinien, mit Ungarn und Tschechien aber nur 2 EU-Mitglieder. 43 enthielten sich, neben der BRD 11 weitere EU-Mitglieder.
Baerbock argumentiert gegen ihre Kritiker, sie habe sich an das
Gesetz und das humanitäre Völkerrecht zu halten. In der Tat waren die
BRD-Waffenlieferungen an Israel wie auch die Streichung der Fördermittel für
UNRWA bereits Thema in dem von Nicaragua gegen die BRD angestrengten Verfahren wegen
Unterstützung genozidaler Handlungen Israels bei den Angriffen auf den
Gazastreifen. Den Eilantrag Nicaraguas auf Verhängung einstweiliger Maßnahmen lehnte
der IGH zwar ab, nicht zuletzt, da die BRD-Vertreter strenge Kontrollen für Waffenexporte
an Israel benannten, deren Einhaltung sie zusicherten. Das Hauptverfahren steht
aber noch aus. Das gilt auch für das Hauptverfahren im Rahmen der
Völkermord-Klage Südafrikas.
Diese Verfahren werden vor allem von Ländern des globalen
Südens unterstützt. Ihre Verhandlungen und Ergebnisse genießen dort breite Publizität.
Mit den Prozessen kommt die vom Westen geschaffene internationale
Gerichtsbarkeit einmal nicht primär zum Einsatz gegen als „autoritär“ etikettierte
Regimes Afrikas und anderer nichtwestlicher Kontinente, sondern gegen Kriegsverbrechen
des vom Westen protegierten, angeblich „demokratischen“ Israel, das die meisten
Südafrikaner als Apartheidstaat ansehen. Chinas Außenminister Wang Yi, bezeichnete Israels Krieg gegen die Palästinenser als „eine Tragödie für die Menschheit und
eine Schande der Zivilisation“ und dürfte damit die Sicht der globalen
Mehrheit annähernd getroffen haben.
Dass diese Prozesse möglich wurden, zeigt, dass der Westen trotz
mächtiger ITK-Monopole die Narrative der Weltöffentlichkeit nicht mehr lückenlos
kontrolliert. Die Verschiebungen nach dem „unipolaren Moment“ hin zur
Multipolarität, die es in den internationalen ökonomischen und
politisch-militärischen Kräfteverhältnissen gibt, zerreißen mehr und mehr auch die
Nebelschwaden einseitiger westlicher Propaganda. Am stärksten wirkt das bisher in
der Palästinafrage. Baerbock, in der Ukrainefrage eine russophobe Hardlinerin,
muss in der Palästinafrage dem internationalen Anpassungsdruck nachgeben, wenn
sie das Image einer „wertegeleiteten“ deutschen Außenpolitik nicht ins
Lächerliche ziehen will. In der muffigen BRD-Atmosphäre fordert das jene
heraus, die auf dem bisher herrschenden Narrativ beharren.
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