Freitag, 9. Februar 2018
Der Schrumpfkurs - zur Vertrauenskrise in der SPD
Von 1990 bis 2003, als die Agenda 2010 beschlossen wurde,
sank die Mitgliederzahl der SPD um ungefähr 20000 jährlich von 943402 auf
650798. Ausnahme war das Jahr der Kanzlerwahl Schröders, wo sie lediglich
stagnierte. Die Schrumpfung der SPD begann nicht mit der Agenda, wurde aber durch
sie besiegelt. Allein im Jahr 2003 sank die SPD-Mitgliederzahl um über 43000,
dann im Schnitt um jährlich etwa 17000 auf 432704 Ende 2016. Zum ersten Mal
seit 1990 erhöhte sich die Zahl der Mitglieder wieder im Jahr der Kandidatur
von Martin Schulz 2017 um etwa 10000 auf 443152 bis Jahresende. Da die CDU
leicht schrumpfte, wurde die SPD wieder größte deutsche Partei. Dank der
Auseinandersetzung um die große Koalition gingen die Eintritte Anfang 2018 weiter.
Der Aufruf der Kampagne NoGroKo an frühere Mitglieder und Wähler, einzutreten,
um sich an der Abstimmung gegen die GroKo zu beteiligen, erreichte einen
kleinen Bruchteil der „Ehemaligen“.
Dem neoliberalen Umbau, der in der Agenda 2010 gipfelte,
gingen Helmut Schmidts kapitalorientierte Sparpolitik und sein Reformabbau seit
der Krise 1974/75 sowie Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ von 1982 als
Schübe nach rechts voraus. Die mit der Einverleibung und Deindustrialisierung
der früheren DDR gesteigerte Massenarbeitslosigkeit galt als Vorwand. Unterm
Strich kostete diese Politik seit 1990 die SPD mehr als die Hälfte ihrer
Mitglieder und Wähler. Für Konzernlenker, Wirtschaftsverbände, CDU/CSU und FDP war
die Agenda 2010 jedoch die unverzichtbare Weichenstellung für die Herstellung deutscher
Wettbewerbsvorteile angesichts der „Globalisierung“. Nicht wenige Stimmen aus
Großkapital und Wirtschaftspresse würden eher eine CDU-Minderheitsregierung in
Kauf nehmen, als in Koalitionsverhandlungen Abstriche an der Agenda 2010 hinzunehmen,
die über deren kosmetische Abfederung hinausgehen würden.
Auch die SPD-Führung will nur kosmetische Abfederung. Daher war
absehbar, dass bei Koalitionsverhandlungen nicht viel herauskommen konnte. Das
spüren große Teile der SPD-Basis, egal, ob sie dahinter die Interessen des
Großkapitals, das Kalkül der CDU/CSU, die SPD „über den Tisch zu ziehen“, oder
beides vermuten. Eine starke Minderheit auf dem Parteitag im Dezember wollte die
Aufnahme von Koalitionsverhandlungen von vornherein ausschließen und glaubte
den Beteuerungen einer „Ergebnisoffenheit“ der Sondierungen nicht. JuSo-Chef
Kühnert sprach von einer „tiefen Vertrauenskrise“ in der SPD. Die Parteibasis habe
kein Vertrauen, „dass Entscheidungen an der Spitze in ihrem Sinne getroffen
werden“. Auf dem Parteitag im Januar konnte die Führung den Beschluss zur
Aufnahme von Koalitionsverhandlungen knapp durchsetzen. Die Urabstimmung wird
zeigen, wie verbreitet das völlig berechtigte Misstrauen der SPD-Basis
tatsächlich ist.
Die GroKo-Gegner haben sich hinter den JuSos gesammelt, die von
wenigen alten „SPD-Linken“ (wie Hilde Matheis und Marco Bülow) unterstützt
werden. Sie wollen den Weg der SPD in die Marginalität verhindern, den die
Schwesterparteien in Griechenland, Frankreich und anderswo bereits gegangen
sind. Ihnen schwebt eher ein Weg vor, wie ihn Jeremy Corbyn in Großbritannien,
Bernie Sanders in den USA und die Sozialisten Spaniens eingeschlagen haben.
Dass die „Erneuerung“ kein Spaziergang wird, wissen sie. Da die
SPD-Wählerschaft gespalten sei, rechnet Kühnert mit weiteren Verlusten in der
Wählergunst, egal, wie die SPD in der GroKo-Frage entscheide. In den sozialen
Medien zeigen die GroKo-Gegner große Nüchternheit in Bezug auf die
Reformierbarkeit der SPD. Vieles deutet auf künftige, weitere Umbrüche im
Parteiensystem hin. Sie sind auch für außerparlamentarische Bewegungen relevant.
Denn die SPD ist in Gewerkschaften, Sozialverbänden, Vereinen und
Massenorganisationen der Lohnabhängigen immer noch stark verankert.
UZ-Kolumne von Beate Landefeld am 9.2.2018
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