Als ich ein Kind war las meine Oma abends manchmal Geschichten aus alten Lesebüchern vor. Eine Kriegsgeschichte blieb mir in Erinnerung. An der Front liegen französische und deutsche Soldaten sich in Schützengräben gegenüber. Ein erregter Franzose ruft an die Deutschen gerichtet: „Filous!“ (= Betrüger) Ein Schwabe im deutschen Schützengraben versteht: „Wieviel Uhr?“ und ruft zurück: „Halber Viere!“ Ob die Geschichte im Krieg 1870/71 oder in einem früheren spielt, weiß ich nicht, auch nicht, ob der Autor Gottfried Keller ist. Jedenfalls musste ich dieser Tage an die Anekdote denken, nachdem ich in einem Telegram-Kanal, der den Krieg in der Ukraine verfolgt, von Ereignissen las, die in der Gegenwart vor sich gehen.
Der Telegram-Kanal schildert Einzelheiten eines Waffenhandels
an der Donbass-Kontaktlinie. Er spricht von „indirekter Lieferung militärischer
Ausrüstung aus Europa nach Russland über Ukrainer“. Aus Anlass der Meldung,
Frankreich liefere der Ukraine weitere sechs selbstfahrende CAESAR Geschütze,
wird mitgeteilt, zwei solcher CAESAR seien „für lächerliche 120000 Dollar“ an
die Russen gegangen, während die ukrainischen Unterhändler zunächst 1 Million
gefordert hätten. Spezialisierte russische Unterhändler seien dabei, die Möglichkeiten
des Erwerbs des einen oder anderen Modells gegnerischer Militärausrüstung zu
sondieren. Unter anderem seien sie am Kauf von HIMARS interessiert. Beim Waffenhandel
an der Kontaktlinie seien Bedingungen zu beachten. Den Beteiligten müsse zum
Beispiel egal sein, ob das Verschwinden westlicher Waffen dem Ruf der Ukraine schadet.
Die russische Seite agiere als wählerischer Kunde. Veraltete
Militärtechnik brauche sie nicht. Lokale Geschäftsleute seien am Handel beteiligt.
Während des Transfers großen Geräts, starte man zur Ablenkung
Artillerieangriffe auf leere Plätze. Das Interesse der Russen am Waffenhandel sei
aber nicht nur geschäftlich. Die Deals seien Gelegenheiten, um Arbeitskontakte
mit der ukrainischen Seite zu pflegen, die in der Zukunft zur Lösung weitaus drängenderer
Probleme genutzt werden könnten. Auf ukrainischer Seite gebe es das große
Bedürfnis, nicht zu kämpfen, sondern zu überleben und Geld zu verdienen. Ein
Video, das seit Wochen im Netz kursiert, zeigt ungenügend versorgte ukrainische
Soldaten, die den Russen westliche Waffen im Tausch für Essen und Getränke anboten,
da sie die Waffen ohnehin nicht bedienen konnten.
Friedliche Geschäfte an Schützengräben sind aber nur die
idyllische Randerscheinung des illegalen Waffenhandels, der sich aus den
umfangreichen westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine speist. Das Land
gehört schon seit 2014 zu den Hauptumschlagplätzen illegalen Waffenhandels. Anfang
Juni warnte Europol, die massiven Lieferungen könnten langfristig in falsche
Hände geraten und auch der EU Probleme bereiten. Interpol-Chef Jürgen Stock
prognostizierte, dass die gelieferten Waffen in der globalen Schattenwirtschaft
und in den Händen von Kriminellen landen könnten (The Guardian 2.7.2022). Nach
dem 24.2.2022 wurden allein in Kiew 25000 Schusswaffen ausgegeben, wobei
kriminelle Banden mitbewaffnet wurden. Die von Neonazis durchsetzten
Streitkräfte der Ukraine tragen zusätzlich zur Unsicherheit bei.
Ein Teil der ins Land gepumpten Waffen „verschwand“ aus
Armeebeständen oder im Kriegsgebiet. Eine von den USA gelieferte
Javelin-Panzerabwehrrakete wurde für 30000 Dollar im Darknet angeboten. Fast
täglich erscheinen im Netz Videos von Lagern mit unversehrten Waffen, die den
Streitkräften der RF, LPR und DPR beim langsamen, aber stetigen Vormarsch in
die Hände fallen, da sie von abziehenden ukrainischen Truppen zurückgelassen werden.
Täglich gibt es russische Einsätze zur Zerstörung der militärischen Infrastruktur
der Ukraine inklusive ihrer Waffenlager.
Kolumne von Beate Landefeld erschien zuerst in der UZ vom 8. Juli 2022
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